In der Neuen Musik, wie sie in den 1950er und 60er Jahren historisch bestimmend in Erscheinung trat, wurden Veränderungen im Selbstverständnis der Kunst artikuliert, wie sie bis heute auch in der Theorie ästhetischer Praxis und Erfahrung kaum deutlicher formuliert werden. Diese Neue Musik kann insofern als Vorlage für ein allgemeines Modell musikalisch-ästhetischer Praxis und Erfahrung gelesen werden, von dem sich Gestaltungsprinzipien für den gesamten Musikunterricht ableiten lassen. Zugleich aber ist diese Neue Musik auch „nur“ eine unter ganz anderen historisch und global zu findenden Musiken. Von daher ist sie ein Inhalt von Musikunterricht unter anderen (sofern man davon ausgeht, dass Musikunterricht nicht nur – wie manchmal religiöse Unterweisung – in eine spezielle Musik einführen soll).
Die Grundzüge und Begründungszusammenhänge des Modells Musikpraxen erfahren und vergleichen wurden andernorts dargestellt.1
Im vorliegenden Text wird anhand des Begriffs Komponieren der genannte doppelte Bezug des prozess-produkt-didaktischen Modells Musikpraxen erfahren und vergleichen zur Neuen Musik in drei Spots umrissen:
- Neue Musik öffnet den Blick dafür, dass alles Kunst sein kann. Mit anderen Worten, dass Komponieren nicht notwendig das Gestalten von Werken bedeutet, sondern letztlich nur das Gestalten von Erfahrungssituationen bzw. Praxen.
- Eine musikpädagogische Analyse mit den Voraussetzungen aus Punkt 1 ergibt, dass die prozess-produkt-didaktische Methode, nach der Schülerpersonen (im Folgenden Schül.) ihre Erfahrungssituationen selbst (mit-) gestalten bzw. komponieren, die Aussichten auf musikalisch-ästhetische Erfahrung begünstigt und daher musikdidaktisch zu empfehlen ist.2
- In einem musikdidaktischen Kanon von Familien von Musikpraxen erscheint Neue Musik (der 1950er/60er Jahre) als charakteristisch für eine ganze Familie von Musiken.
Was heißt komponieren? (Die Erweiterung des Musikbegriffs)
Komponieren in seiner ursprünglichen Wortbedeutung com-ponere bedeutet nichts als zusammensetzen/-stellen/-legen. Weitergehende Bedeutungszuschreibungen, die sich in der abendländischen Kunstmusik vom Basteln und Werkeln zum Meisterhaften und weiter bis zum genial-einzigartigen Kunstwerk steigern, können, müssen aber nicht mit dem Wort komponieren verknüpft werden.
Was wird beim Kom-ponieren zusammengesetzt oder -gestellt? – Mit den Einsichten der Neuen Musik der 50er/60er Jahre, von Fluxus und Happening, kann alles auf jede erdenkliche Weise zusammengestellt werden. Dem entsprechend tritt in der Theorie ästhetischer Erfahrung an die Stelle des Artefakts die Situation bzw. Praxis.
Wer setzt oder stellt zusammen? In der (Praxis der) Neuen Musik wird reflektiert, dass das musikalisch Erfahrene nicht allein vom Komponisten und seinem Werk abhängt, ja sogar gänzlich ohne beide stattfinden kann. Dementsprechend verschwimmt auch die Rollenverteilung von Komponist, Interpret und Publikum. Zum Beispiel ist in einem Wandelkonzert nicht mehr vorbestimmt, welche Teile einer Komposition ein Zuhörer wahrnimmt und wie er diese in seiner Wahrnehmung bzw. Erfahrung zusammensetzt. Bei Kassettenrecorder-Spielen bzw. heute in Playlists oder Soundprogrammen komponieren Hörer_innen ihre eigenen Stücke.3
John Cage stellt in 4:33 drei Zeitabschnitte bereit, in denen Hörer auf die Musik der Umgebung hören können; in Die singende Schnecke komponiert Hans Wüthrich, dass Schilder in Bäume gehängt werden, auf denen Anweisungen dafür stehen, in welchen Deutungskontexten das Publikum sich jeweils zufällige Naturklänge vorstellen soll.
Beispiele für Schilder in Bäumen: „Merke dir zwei akustische Ereignisse aus dem realen musikalischen Ablauf. Kombiniere sie auf verschiedene Weisen innerlich miteinander und setze sie dauernd mit der sich verändernden akustischen Umwelt in Beziehung.“4
„Versetze dich in verschiedene Gemütsstimmungen (trotzig, heiter, aggressiv usw.). Höre die umgebenden akustischen Ereignisse entsprechend deiner jeweiligen Verfassung.“5
„Versuche, nichts in das Realklingende hineinzuhören.“6
„Wussten Sie“, schreibt Wüthrich im Vorwort, „dass die Flüssigkeit im Schneckengang Ihres Ohres nicht nur durch äußere Reize in Schwingung versetzt wird, sondern ebenso durch das innerliche Hören, die Imagination von Klängen und Geräuschen?“ Ein aktuelles Beispiel für die Rollenvermischung von Komponisten, Interpreten und Publikum präsentierte das Kunstfest Weimar 2015 mit einem mehrteiligen „Stadtrundgang“, den die Komponisten Daniel Ott und Kirsten Reese gestalteten.7
Entsprechend der Relevanz aller Situationsaspekte für Musik rückt in ästhetischer Theorie die Praxis an die Stelle des Werks. Das Wort Praxis betont erstens die Aktivität bei der Konstruktion von Musik auf allen Ebenen, von der Wahrnehmung über körperliche Aktivitäten, technische Hilfsmittel und Artefakte bis hin zu zufälligen Objekten, und zweitens betont Praxis, dass es in der Musik stets mehrere Beteiligte gibt; sei es als direkt Anwesende, sei es als indirekt Anwesende, die über Techniken, Regeln und Artefakte ihre Handlungsspuren in die Praxis einbringen.
Warum wird zusammengesetzt? Um eine erfüllte Zeit zu haben. Verschiedenen Musikpraxen kann es um verschiedene Arten der Erfüllung gehen. (Vergleiche zum Beispiel die Erfüllungsinteressen von experimenteller Musik mit einer Kompilation von Lieblingsstücken.) Es geht in ästhetischer Praxis nicht um irgendwelche weltanschaulich abgrenzenden, manipulativen oder sonstigen Zwecke im praktischen Leben, sondern nur um die Zeit in dieser Praxis selbst;8 und dennoch berührt ästhetische Praxis mit zahlreichen Konkretionen auch mehr oder weniger die alltägliche Welt und das Leben ihrer Akteure.
Komponieren und Unterricht (produktionsdidaktische Ansätze)
Komponieren kann im Zusammenhang von Unterricht unterschiedlich positioniert werden, nämlich als Komponieren von Unterricht, im oder als Unterricht.
- Als Komponieren von Unterricht lässt sich die Tätigkeit einer Lehrkraft bezeichnen, wenn sie einen Unterricht plant. Sie setzt sich ein Ziel, bedenkt den Kontext und die beteiligten Schül., überlegt Methoden und Materialien und wie der Lehr-Lern-Prozess möglichst motivierend, in sachlich sinnvoller und abwechslungsreicher Reihenfolge im gegebenen Zeitrahmen zu einem wünschenswerten Ergebnis kommen kann.
- Komponieren im Unterricht kann im Musikunterricht sowohl als ein Inhalt als auch als eine Methode unter anderen praktiziert werden.9 Je nachdem, welche Musik im Unterricht thematisiert werden soll, wird dabei eher von „komponieren“ oder aber von „erfinden“, „improvisieren“, „inszenieren“10, „gestalten“ oder allgemein von „produzieren“ gesprochen werden. Eine Übergangsform vom Komponieren im zum Komponieren als Unterricht stellen Produktionsdidaktiken dar, die das Produzieren (im weitesten Sinne von komponierendem Erfinden einschließlich improvisierendem Realisieren) von Musik zur alleinigen Form von Musikunterricht machen. Als Beispiele aus der Geschichte der Musikpädagogik seien nur die Modelle von Jöde in den späten 1920ern, der das erfindende Singen mit Kindern zugrunde legte, von Paytner/Aston und Meyer-Denkmann in den 70ern, die von der Praxis Neuer Musik ausgingen, und Schütz in den 80ern, der auf der Rockmusik im Klassenarrangement basierte, genannt.11
- Das Komponieren als Unterricht macht nur noch einen kleinen Schritt über die beschriebenen Produktionsdidaktiken hinaus. Die Konzepte der Kommunaloper von Henze und der Klangszenenimprovisation von Roscher, beide in den 1970ern entwickelt und bis in die 80er und 90er Jahr praktiziert, können als Schritte in diese Richtung interpretiert werden, indem die Komponisten bzw. Lehrkräfte – die Unterscheidung zwischen beiden Funktionen ist da kaum noch zu machen – gemeinsam mit den teilnehmenden Laien bzw. den Schüler_innen ein Produkt entwickeln und gestalten. Geht man davon aus, dass solche Produktionen im Kontext von Schule stattfinden und dass es nicht in jedem Fall um öffentliche Aufführungen gehen muss, sondern auch um die Gestaltung von Erfahrungssituationen verschiedenster Art im Klassenrahmen gehen kann, dann wäre dies Komponieren als Unterricht. Der Produktionsdidaktiker Wolfgang Longardt (1968) hat diese Möglichkeit von Musikdidaktik angedeutet (vgl. Wallbaum, 2000, 58–66). In Bezug auf die allgemeinbildende Schule ist dieses Vorgehen dem projektorientierten Unterricht nahe.12 Der entscheidende musikdidaktische Schritt, der hier dargestellt und vollzogen werden soll, ist der, dass die Schül. nicht nur in einem Musikunterricht komponieren, den eine Lehrkraft „komponiert“ hat, sondern dass sie selbst musikdidaktisch denken und ihre musikalisch bildenden Erfahrungssituationen bzw. Musikpraxen planen und gestalten.
Produkt- oder Prozessorientierung? (Prozess-Produkt-Didaktik)
In den 60er/70er Jahren war die Frage der Prozess- oder Produktorientierung musikpädagogisch beinahe gleichbedeutend mit der Frage, ob man konservativ oder progressiv orientiert war, wobei dieses Urteil über den Musik- und speziell Werkbegriff hinaus mit politisch-weltanschaulichen Positionierungen assoziiert wurde.13 Musikpädagogisch fand die Alternative Produkt- oder Prozessorientierung eine Entsprechung und Fortsetzung in Schüler- oder Werkorientierung oder noch allgemeiner Subjekt- oder Objektorientierung. Später ist das harte Entweder-Oder eher der Aufmerksamkeit für die Relation zwischen Subjekt und Objekt bzw. letztlich einer praxialen Sichtweise gewichen, in der Subjekte wie Objekte nicht als isolierte Einheiten, sondern als eingebettet in praxiale bzw. kulturelle Zusammenhänge gedacht werden. Kurz gesagt ist aus heutiger Sicht eine relationale Prozess-Produkt-Didaktik zu empfehlen, wobei mit Produkt weniger ein notiertes Werk als das (auch vorläufige) Ergebnis eines Such-, Probier- und Gestaltungsprozesses gemeint ist. In der prozess-produkt-didaktischen Praxis bedeutet das einen stetigen Wechsel zwischen dem Entwerfen, Vollziehen bzw. Performen und Reflektieren einer Musikpraxis unter dem Aspekt, ob sie erfüllend war. In dieser Reflexion wird der erfahrene Prozess zum Produkt, das nach Bedarf verbessert, quasi neu oder um-komponiert wird. Das Ziel einer ästhetisch gelungenen bzw. erfüllten Praxis gibt dem Prozess die Richtung.
Wo es der Neuen Musik in ihrer historischen Situation um das Überschreiten und letztlich Überwinden der musikgeschichtlich bedingten Grenzen in Form von Gestaltungstechniken, Hör- und Denkweisen wie kadenziellen Zusammenhängen, Wiederholungen etc. ging, da geht es aus allgemein prozess-produkt-didaktischer Perspektive nur um das musikalisch bildende Überschreiten der Grenzen, die die jeweiligen Schül. mitbringen; kurz gesagt um Lernen bzw. Bildung.14
Musikpraxen erfahren und vergleichen (Erweiterung von Prozess-Produkt-Didaktik)
Das durch Analysen und Verallgemeinerung letztlich relativ abstrakt gewordene prozess-produkt-didaktische Modell gilt prinzipiell für jede musikbezogene Lehr-Lern- bzw. Erfahrungssituation, in der es um ästhetisches Handeln und Erfahren geht. Um als musikdidaktisches Modell über das allgemeine Verfahren hinaus auch musikalische Inhaltsentscheidungen zu unterstützen, ohne den kompositorischen Kern zu behindern, lässt sich das prozess-produkt-didaktische Modell erweitern zu Musikpraxen erfahren und vergleichen, in dessen Kontext dann die Neue Musik – bzw. ihre Kompositionstechniken, Kompositionseinschränkungen, Schriften etc. – in einem „Korb“ voll Material und Anregungen für neue Kompositionen wiederkehrt.
Anhand der Abbildung Musikpraxen erfahren und vergleichen lassen sich die Erweiterungen der Prozess-Produkt-Didaktik anschaulich erläutern, wenn man einerseits vertikal das Verhältnis von Korb zu Musikpraxis und andererseits horizontal das Verhältnis der Musikpraxen und Körbe zueinander betrachtet.