Musik erfinden mit Kindern im Vor- und Grundschulalter

Umriss eines methodisch-didaktischen Konzeptes

Autorin: Renate Reitinger

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Eigene musikalische Erfindungen sind wesentlicher Bestandteil jedes musikalischen Entwicklungsprozesses. Bevor Kinder die vorhandenen kulturellen Konventionen in Form von Liedern, rhythmischen Versen, stilistisch vielfältigen musikalischen Bausteinen und Musikstücken erlernen, erproben sie ihre eigene musikalische Ausdrucksfähigkeit in vielerlei Hinsicht. Sie lautieren, summen und singen spontan erfundene Liedchen, experimentieren mit den Klängen von Alltagsmaterialien und Instrumenten und erkennen auf diese Weise Bezüge zwischen den damit verbundenen körperlichen Erfahrungen, den Klang erzeugenden Gesten, Spiel- oder Singbewegungen. Dieses Bedürfnis nach eigenem musikalischem Ausdruck bleibt auch während der Phase der eher nachahmenden Aneignung der jeweiligen Musikkultur bestehen und nimmt im Kontext der gesamten musikalischen Entwicklung des Menschen eine wichtige Funktion ein, da ein gelungener musikalischer Entwicklungsprozess sich im Spannungsfeld zwischen Reproduktion und Produktion von Musik, Nachahmung und Spiel, Einüben und Erfinden vollzieht. Musikalische Erfindungen, Neukombinationen und Erweiterungen sind als notwendiges Gegengewicht zur Aneignung vorhandener Musik quasi der Motor für die weitere Entwicklung.2

Es lässt sich aber beobachten, dass die ursprünglich vorhandene spontane musikalische Ausdrucksbereitschaft in dem Moment rapide in den Hintergrund tritt, wo das Imitieren, Erlernen und Üben vorhandener musikalischer Bausteine in den Mittelpunkt des Interesses der Kinder und ihrer Lehrkräfte rückt. Die häufig damit einhergehende einseitige Schwerpunktverschiebung im Sinne einer möglichst umfassenden Erarbeitung vorhandenen musikalischen Repertoires führt nicht selten dazu, dass später eine extreme Unsicherheit im eigenen freien Gestalten mit Klängen, musikalischen Bausteinen und Spielregeln auftritt, die nur mit viel Mühe und sorgfältig didaktisch aufbereitetem Improvisationsunterricht wieder ausgeglichen werden kann. Um dies zu vermeiden, sollte daher auf jeder Könnens- und Entwicklungsstufe dem eigenen Erfinden von Musik, sei es als Improvisation, Komposition oder Verbindung verschiedener künstlerischer Ausdrucksbereiche (Bild, Bewegung, Sprache, Musik) Rechnung getragen werden. So kann diese zentrale Facette der menschlichen Musikalität und Kreativität wirksam werden und Kinder werden schließlich nicht nur musikalisch, sondern in ihrer gesamten Persönlichkeit gefördert.

Die musikalischen Erfindungen und Produkte von Kindern sind darüber hinaus aber auch noch in einem anderen Sinne bedeutsam: Sie geben fachkundigen Beobachtern und Zuhörern Informationen über den Entwicklungsstand des Kindes, seine kreativen Fähigkeiten, seinen Gestaltungswillen, seine musikalischen Vorlieben, Stärken u.a.m., also all jene Facetten seiner Musikalität, die sich beim Erlernen und Reproduzieren eines vorgegebenen Repertoires häufig nur schwer beobachten und beurteilen lassen. Fehlt diese Beobachtungsgrundlage, kommt es häufig zu einseitigen Urteilen über die musikalische Leistungsfähigkeit von Kindern, orientieren sich methodisch-didaktische Planungen stets nur an dem, was die Kinder (noch) nicht können, anstatt an ihre Stärken und Vorlieben anzuknüpfen. Um dies sowie insgesamt eine Einseitigkeit des Musikunterrichts zu vermeiden, muss das Erfinden von Musik als gleichberechtigte Umgangsweise, Methode und inhaltlicher Schwerpunkt berücksichtigt werden. Diese Herangehensweise erfordert von der Lehrkraft zuallererst eine pädagogische Grundhaltung, die von einer positiven Sichtweise auf das Kind und seine Fähigkeiten und vom pädagogischen Ziel, jedes Kind im Rahmen seines musikalischen Potenzials bestmöglich zu fördern, geprägt ist. Neben der Wertschätzung der kindlichen Besonderheiten und der interindividuellen Unterschiede in der musikalischen Entwicklung sind aber auch spezielle fachliche und methodisch-didaktische Kenntnisse vonnöten, die im Folgenden erläutert werden sollen. Den übergeordneten Bezugspunkt für diese didaktischen Ideen bildet die Elementare Musikpädagogik, die im Sinne von Juliane Ribke die „Persönlichkeitsbildung als musikerzieherisches Konzept“3 ansieht.

Wenn im weiteren Verlauf nicht nur von Musik erfinden, sondern auch von Komponieren und Komposition die Rede ist, ist dies zunächst nicht im herkömmlichen Sinne eines elaborierten Kunstwerkes zu verstehen, sondern als ein Erfinden und Verknüpfen von musikalischen Gesten, Spielbewegungen, Klängen und Spielregeln, die schließlich zu einem relativ wiederholbaren Stück „zusammengestellt“ (lat. com-ponere) werden. Experimentieren und Improvisieren sind wesentliche Vorerfahrungen. Die Grenze zum Komponieren bleibt aber stets fließend. Beim Musikmachen haben wir es generell mit einer spezifischen künstlerischen Ausdrucksform zu tun, die bestimmten Strukturprinzipien und Regeln folgt und dennoch Raum lässt für eigenes individuelles Gestalten. Dies ist zwar in gewisser Hinsicht auch in der Reproduktion vorhandener Musik der Fall – und für eine eigene Interpretation dringend Voraussetzung –, in eigenen musikalischen Erfindungen wird diese Gestaltungsfähigkeit jedoch in besonderem Maße gefordert und gefördert. Da muss das musikalische Material zuerst generiert werden, bevor Spiel- und Kompositionsregeln selbst erfunden und ausgearbeitet werden können. Die in Experimenten mit den Instrumenten und weiteren Klangmaterialien gefundenen Klänge, Motive und musikalischen Bausteine müssen zunächst improvisierend ausgehorcht und in ihren Verknüpfungsmöglichkeiten erprobt werden, bevor eine endgültige Festlegung und ggf. auch Notation erfolgen kann. Hier wird die Nähe eines solchen Kompositionsbegriffes und damit verbundenen didaktischen Ansatzes zu den Strukturprinzipien und der Aufführungspraxis sog. Neuer Musik klar, wie er bereits seit den 1970er Jahren von Gertrud Meyer-Denkmann und anderen konzipiert wurde und mittlerweile auch Eingang in verschiedene didaktische Konzeptionen und Lehrpläne gefunden hat: „Erfordert das experimentelle Verfahren Aktivität und Initiative, so bewirkt das Gestalten klangliche und formale Vorstellungen sowie ein ordnendes Bewusstsein. […] Die erkennende und definierende Unterscheidung musikalischer Phänomene, unterstützt durch Notieren und vergleichendes, hinweisendes Hören von Kompositionsabschnitten ermöglicht Reflexion und aktives Denken. Eine produktive Gestaltung […] erfordert Kreativität und Sensibilität, ordnenden Verstand und übergeordnetes Bezugsvermögen.“4

Kinder im Vor- und Grundschulalter verfügen heute über diverse musikalische Vorerfahrungen. Diese sind neben der medialen Präsenz von Musik meist geprägt von den musikalischen Erfahrungen mit Eltern und Geschwistern, aber auch von musikalischen Aktivitäten im Kindergarten oder in der Musikschule. Die meisten Kinder im Vorschulalter lernen noch nicht explizit ein bestimmtes Instrument und auch im Grundschulalter bleibt dies häufig aufgrund des dafür nötigen großen finanziellen und persönlichen Engagements der Eltern wenigen vorbehalten. Die eigene Sing- und Sprechstimme und elementare Musikinstrumente stehen jedoch in den meisten Bildungseinrichtungen zur Verfügung und können teilweise auch mit geringem Aufwand und aus Alltagsmaterialien mit den Kindern selbst gebaut werden. Speziellere musikalische Kenntnisse seitens der Kinder sind für den hier vorgeschlagenen Weg zunächst nicht nötig, sie entwickeln sich vielmehr im produktiven Umgang mit Musik. Musik erfinden ist auf jeder Alters- und Könnensstufe möglich, sodass jedes Kind im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten gefördert werden kann.

Vor- und Grundschulkinder sind in der Lage, mit musikalischem Material selbstständig umzugehen und sich selbst durch klangliches Gestalten zum Ausdruck zu bringen. Kompositionsklassen an Musikschulen sind häufig älteren Kindern vorbehalten, die bereits ein Instrument beherrschen und musiktheoretische Vorkenntnisse haben. Für ein Komponieren im oben beschriebenen Sinne sind jedoch seitens der Schüler zunächst keine Vorkenntnisse erforderlich, diese werden vielmehr in der Auseinandersetzung mit der Musik selbst gewonnen. Ausgehend vom Experimentieren und Improvisieren mit Tönen, Klängen und Geräuschen, suchen und finden Kinder kleine musikalische Motive, können diese Rhythmus- und Melodiebausteine anschließend kombinieren, den gefundenen Klangverlauf festhalten, üben und vorspielen. Hierbei lernen sie Spieltechniken, Gesetzmäßigkeiten und Wirkungen von Musik kennen. Insbesondere dann, wenn sie – wie hier vorgeschlagen – meist Komponistin und Interpret in einer Person sind.

Die im Folgenden beschriebenen didaktischen Überlegungen zum Musikerfinden mit Kindern zwischen fünf und zehn Jahren sollen Lehrkräfte im Elementarbereich an Musikschulen und Kindergärten, Instrumentallehrkräfte mit Interesse am Anfangs- und Gruppenunterricht und Musiklehrkräfte an Grundschulen dazu anregen, die vorgeschlagenen Themenbilder zu erproben, eigene Ideen zu entwickeln und so dieses wichtige Lernfeld als festen Arbeitsbereich in ihren Unterricht zu integrieren.

1. Ziele und Inhalte

Musikunterricht, in dem komponiert wird und in dem gemeinsam oder solistisch eigene Musikstücke musiziert werden, kann im Hinblick auf die musikalische Entwicklung von Kindern auf mehreren Ebenen wirksam werden. Im Prozess des Komponierens und in den damit einhergehenden Aktivitäten des Experimentierens, Improvisierens, Notierens, Vorspielens, Nachahmens, Hörens und Sprechens über Musik steckt ein musikpädagogisches und auch allgemein bildungsrelevantes Potenzial, das hier überblicksartig in seinen verschiedenen Zielebenen und inhaltlichen Schwerpunkten dargestellt werden soll.

1.1 Musikalisch-spieltechnische Zielebene

In musikalischer Hinsicht erhalten die Kinder einen Einblick in spieltechnische und klangliche Besonderheiten des Instrumentariums. Dies geschieht vornehmlich in der Exploration der vorhandenen Klangmaterialien (elementare Instrumente, Selbstbauinstrumente, traditionelle Instrumente ggf. in experimenteller Spieltechnik, Stimme, Body-Percussion, Alltagsmaterialien). Dabei entstandene Motive und musikalische Bausteine werden anschließend herausgefiltert und geübt, sodass ein Üben „auf Vorrat“ weitgehend vermieden werden kann. Das reflektierende Üben der eigenen Stücke spielt dagegen eine wesentliche Rolle. Wichtig ist hier, dass das Üben stets eng mit dem „Sich-selbst-Zuhören“ und Beurteilen des jeweiligen klanglichen Ergebnisses verknüpft ist. Ziel ist es, dabei eine Verbindung zwischen innerer Klang- und Bewegungsvorstellung zu erzeugen, die die Voraussetzung für eine differenzierte Spieltechnik auf jedem Instrument darstellt. Es geht also auch darum, im Rahmen der Erfindung und Erarbeitung eigener Musikstücke grundlegende instrumental-, stimm- und bewegungstechnische Fähigkeiten zu erwerben.

Darüber hinaus sollen die Kinder auf zunächst eher induktivem Weg die Strukturregeln von Musik allgemein (Wiederholung, Variation, Kontrast, Spannungsverläufe etc.) sowie von verschiedenen musikalischen Stilen und Formen kennenlernen und erproben. Dies geschieht zusätzlich zum eigenen Erfinden durch das vergleichende Hören komplexer Musik aus allen Stilen und Epochen und anschließende Gespräche über die Wirkung der unterschiedlichen Kompositionen. Daran anknüpfen können wiederum eigene Erprobungen von Formen und Kompositionsprinzipien (Rondo, Scherzo, Variation, Minimal Music, Aleatorik, Frage und Antwort, Echo etc.). Eine besondere Chance dieser Herangehensweise besteht neben der Förderung des musikalischen Vorstellungsvermögens als Fähigkeit, Beziehungen zwischen musikalischen Elementen zu erzeugen und zu erkennen, in der Vermittlung eines Zugangs zu sog. Neuer Musik. Die Erfindungen der Kinder enthalten aufgrund der kindlichen Herangehensweise in der Regel sowohl Strukturmerkmale von traditioneller als auch von Neuer Musik. Eigenes Komponieren kann daher zum einen die alltäglichen Hörgewohnheiten der Kinder erweitern und zum anderen ein nachhaltiges Verständnis für die Entstehung und Aufführungspraxis Neuer Musik sowie für die Kunst der Geschichte und Gegenwart allgemein erzeugen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn Musik auch als Zusammenspiel von Klang, Körper, Bewegung, Raum, Bild, Sprache etc. im Sinne einer Verschmelzung der verschiedenen Ausdrucksbereiche der Kunst vermittelt wird. Transformationsprozesse sollten daher wesentlicher Bestandteil des Unterrichts sein. So können beispielsweise Bilder verklanglicht, Texte vertont, Bewegungen musikalisch ausgedeutet, aber es kann auch selbst zur Musik gedichtet, gezeichnet, getanzt werden.

1.2 Kognitive Zielebene

Die in der praktischen Erprobung und beim Hören der eigenen und überlieferten Musikstücke gewonnenen Erfahrungen können anschließend dem Alter der Kinder entsprechend auch begrifflich geordnet werden. In den Gesprächen über Musik werden die Kinder zunächst angeregt, in ihren eigenen Worten zu beschreiben, was sie gehört haben, wie verschiedene Teile auf sie gewirkt haben und warum ihrer Meinung nach diese oder jene Wirkung entstehen konnte.

Formale Aspekte und Kompositionsprinzipien lassen sich am besten zusätzlich in Verbindung mit Notationsaufgaben klären. Um den Umgang mit dem Phänomen Notation auf möglichst vielfältige Weise zu etablieren, werden die Kinder zunächst zum Erfinden eigener Notationsformen ermutigt. Früher oder später wird die Notwendigkeit verbindlicher Symbole und Zeichen deutlich werden, z.B., wenn die Stücke einzelner Kinder von anderen gespielt werden sollen. Dann müssen Absprachen getroffen und Systematiken entwickelt werden. Hier kann schließlich zusätzlich zu grafischen Notationsformen die traditionelle Notenschrift thematisiert werden. Wesentlich ist, dass alle musiktheoretischen Inhalte (Notation, Formen, Tonmaterial etc.) stets in engster Anbindung an die eigenen Erfindungen und praktischen Erfahrungen der Kinder erarbeitet werden. Insgesamt geht es darum, eine Kultur des differenzierten Hörens und Sprechens über Musik zu befördern, Verständnis für das Phänomen Notation sowie ein erstes Interesse für musiktheoretische Inhalte zu erzeugen.

1.3 Affektiv-soziale und persönlichkeitsbildende Zielebene

Übergeordnetes Ziel eines Arbeitsbereiches, in dem eigene Erfindungen im Mittelpunkt stehen, ist es, die Freude am gemeinsamen Komponieren, Musizieren und Aufführen der selbst komponierten Stücke zu wecken und so eine dauerhafte Motivation zur praktischen Musikausübung aufzubauen. Insbesondere geht es aber darum, dass die Kinder Musik als individuelle Ausdrucksgestaltung empfinden und für sich entdecken, dass Musik auch emotional für sie bedeutsam wird.

Zudem bietet dieses Lernfeld die Möglichkeit, Begabungen in verschiedenen Bereichen zu entdecken und anzuerkennen. Schüler, die im herkömmlichen Unterricht vielleicht eher untergehen, können hier Anerkennung finden und motiviert werden. Der Erfindungsprozess ist in hohem Maße selbstgesteuert, sodass jedes Kind im Rahmen seiner momentanen Kenntnisse und Fähigkeiten mitarbeiten kann, dafür Wertschätzung erfährt und ermutigt wird, sich weiterhin anzustrengen. Motivierende sog. Urhebererlebnisse sind insbesondere dann möglich, wenn die entstandenen Werke als Video- oder Tonaufnahmen aufgezeichnet oder im Rahmen eines kleinen Konzertes vorgestellt werden. Reizvoll ist es auch, ausgewählte Stücke von „Profis“ aufführen zu lassen. Bei den Proben kann dann das Kind „Regie“ führen. Insgesamt soll das Kind auf diese Weise sowohl in seinem Selbstbewusstsein gestärkt als auch in seiner kritischen Selbsteinschätzung gefördert werden. Beim gemeinsamen Anhören der Aufnahmen kann das eigene Tun reflektiert und können ggf. Verbesserungsvorschläge erarbeitet werden.

Ebenso wird erfahrbar, dass Musik von unterschiedlichen Menschen auch unterschiedlich wahrgenommen wird. Diese Erfahrungen sind Voraussetzung für die allmähliche Ausprägung einer „musikalischen Identität“, das heißt eines individuellen und unverwechselbaren musikalischen Stil-, Ausdrucks- und Geschmacksempfindens, das Ziel eines jeden musikalischen Entwicklungsprozesses sein sollte.

Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über Ziele und Inhalte des Lernfeldes:

Die Erläuterungen zu Zielen und Inhalten machen deutlich, dass es sich um einen äußerst komplexen Arbeitsbereich innerhalb des Musikunterrichts handelt, in dem die Grenze zwischen Inhalt und Methode häufig unscharf ist und sich etliche Überschneidungen mit anderen Bereichen ergeben. So können beispielsweise gewinnbringende Wechselwirkungen mit den Bereichen Hörerziehung und Musiktheorie, Spieltechnik und Improvisation, Musikgeschichte und Werkanalyse entstehen. Dennoch muss Musik erfinden als eigenständiger Entwicklungsbereich betrachtet werden, der schließlich in das Komponieren eigener Werke unterschiedlichster Stilrichtungen münden kann.

2. Praktische Umsetzung in Musikschule und Grundschule

Das Lernfeld Musik erfinden kann in vielfältiger Weise Eingang finden in den Musikunterricht mit Vor- und Grundschulkindern. In der Musikschule kann es im Rahmen der Früherziehung und Grundausbildung, der Orientierungs- und Brückenkurse, im instrumentalen und vokalen Anfängerunterricht oder als Begleitfach Komposition zum Instrumental- oder Vokalunterricht etabliert werden. Viele Kindergärten mit Musikschwerpunkt und Horte kooperieren mittlerweile mit Musikschulen, sodass auch hier qualifizierte Lehrkräfte greifbar sind. Aber auch in den normalen Klassenunterricht der Grundschulen lassen sich Inhalte und Methoden dieses Lernfeldes integrieren. Darüber hinaus bietet es sich an, zusätzlich zum regulären Unterricht Projekte mit dem Schwerpunkt Musik erfinden durchzuführen. Diese können von einer einmaligen Kompositionswerkstatt bis hin zu großen fächerübergreifenden Schulprojekten reichen. Besonders reizvoll ist zudem die Einladung von „echten“ Komponisten, etwa im Sinne der mittlerweile populär gewordenen Response-Workshops. Hier werden in Verbindung mit der Erarbeitung eines zeitgenössischen Werkes eigene Erfahrungen im Komponieren ermöglicht, indem einzelne Kompositionsprinzipien aufgegriffen, von den Kindern selbst in Musik umgesetzt und anschließend in die Aufführung integriert werden.

2.1 Musik erfinden als Gruppenprozess

In den genannten Institutionen findet der Unterricht in der Regel in Gruppen oder Klassen statt. Dieser Umstand birgt gleichermaßen Chancen wie erhöhte Anforderungen an die Lehrkraft. Einerseits sind Ideenpotenzial und Motivation in der Gruppe größer und auch die klanglichen Ergebnisse sind durch die mögliche Beteiligung von mehreren Spielern in der Regel vielfältiger. Andererseits stellt eine größere Schülergruppe die Lehrkraft stets auch vor logistische Probleme. Diese beginnen bei der Raumorganisation, gehen über Fragen der günstigen Zusammensetzung von Kleingruppen bis hin zur Verfügbarkeit von Instrumenten und Notenpulten. Darüber hinaus birgt auch dieses Lernfeld im Gruppen- oder Klassenunterricht spezielle methodisch-didaktische Herausforderungen, die im Folgenden näher erläutert werden.

Anders als beispielsweise im instrumentalen Gruppenunterricht ist eine bezüglich des Alters und der Vorkenntnisse homogene Gruppe nicht unbedingte Voraussetzung. Vielmehr kann eine gemischte Gruppe, wie sie beispielsweise in Workshops oder Projekten zusammenkommt, den Kompositionsprozess sehr positiv beeinflussen, wenn erfahrene und weniger erfahrene Kinder in einer Gruppe zusammenkommen.

Grundsätzlich ist in Klassen oder Großgruppen anzuraten, den Kompositionsprozess auch bezüglich der Sozialform zu rhythmisieren, um vielfältige Aufmerksamkeitsanreize zu setzen. So wechseln sich hier sinnvollerweise Einzelarbeitsphasen und Arbeit in Klein- und Großgruppe ab, wie in jedem anderen Unterrichtsprozess auch. Beispielsweise kann nach einer Anfangsphase mit der gesamten Gruppe eine Phase der Exploration folgen, in der jedes Kind für sich experimentiert, um dann anschließend in Kleingruppen die Ergebnisse zu sammeln, einen Ablauf festzulegen und gemeinsam zu üben. Am Ende eines jeden Erfindungsprozesses steht dann in der Regel die Präsentation vor der gesamten Klasse oder Gruppe bzw. evtl. auch vor einem größeren Publikum aus Eltern, Schülern und Kollegen. Damit die Kinder auch in Kleingruppen von ca. drei bis vier Teilnehmenden eigenständig arbeiten können, sollte die Lehrkraft im Vorfeld mögliche Vorgehensweisen im Rahmen eines exemplarischen Gruppenkompositionsprozesses aufzeigen. Hier ist die Lehrkraft bisweilen selbst als Komponistin gefordert. Sie konstruiert aus den Ideen der Kinder einen möglichen Ablauf, legt Spielregeln und Formabläufe fest, zeigt und erläutert grundsätzliche Kompositionsstrategien.

Neben der Teilhabe an Gruppenkompositionen sollte jedem Kind auch regelmäßig die Möglichkeit gegeben werden, eigene Soloteile oder Solostücke zu erfinden. Besonders hierfür muss nach günstigen Raumorganisationsformen gesucht werden, da die Kinder in der Regel nicht am Schreibtisch komponieren, sondern stets im direkten Kontakt und praktischen Umgang mit dem Instrument. Sie sollten deshalb die Möglichkeit haben, sich phasenweise einzeln oder in kleinen Gruppen auf verschiedene Räume zu verteilen, um konzentriert arbeiten zu können. Allerdings haben nicht alle Kinder dieses Bedürfnis. Für sie kann es besonders inspirierend und motivierend sein, wenn sie hören, was die anderen probieren. Wenn alle durcheinander spielen, kann eine produktive „Werkstattatmosphäre“ entstehen, die höchstens von externen Zuhörern als störend empfunden wird. Erfahrungsgemäß gibt es kaum Konflikte wegen „geklauter“ Ideen, da die Kinder diese dann letzten Endes doch sehr unterschiedlich umsetzen.

Die Funktion der Lehrkraft im Musikerfindungsprozess ist durchaus vielschichtig. So ist sie einerseits Moderatorin, Organisatorin, Kommentatorin oder auch stille Beobachterin und Zuhörerin. Andererseits ist sie wesentliche Impulsgeberin und hat auch als Mitimprovisatorin und Mitkomponistin eine wichtige Vorbildfunktion. Die Lehrkraft begleitet und unterstützt die musikalischen Gestaltungsprozesse der Kinder dadurch, dass sie adäquate Rahmenbedingungen schafft, Improvisationsphasen anleitet, Gruppengespräche moderiert, Hörerlebnisse ermöglicht und die von den Kindern gefundenen musikalischen Lösungen entsprechend würdigt. Die jeweilige Rolle der Lehrkraft ist dabei auch abhängig von der Phase des Kompositionsprozesses, in der sich die Gruppe befindet, und wird im folgenden Kapitel näher erläutert.

2.2 Methodisch-didaktisches Gerüst

Produktive Prozesse sind auf eine ausgewogene Balance zwischen kreativen Freiräumen und Sicherheit bietenden Strukturen angewiesen. Wer als Lehrkraft, z. B. in der Improvisation, solche kreativen Prozesse selbst erfahren konnte, wird die Notwendigkeit von strukturellen Anhaltspunkten im Verlauf des Musikerfindens nachvollziehen können. Insbesondere Lehrkräften, die selbst noch nicht so viele Erfahrungen in diesem Feld sammeln konnten, sich aber neugierig auf das Experiment „Musik erfinden“ mit Kindern einlassen möchten, sollen die folgenden Erläuterungen zum Kompositionsprozess eine Orientierung für den Unterrichtsaufbau bieten.

Die Komponistin Vivienne Olive formulierte drei zentrale Fragen, mit denen sich jeder Komponierende auseinandersetzen muss: Welche Idee bildet den Ausgangspunkt der Komposition und bestimmt damit den musikalischen Sinngehalt des Stückes? Welches Tonmaterial wird verwendet? Welcher formale Aufbau wird entworfen? (Vgl. Olive/Reitinger, 2008.) Der Prozess des Komponierens lässt sich in Anlehnung an diese Fragen in verschiedene Phasen einteilen. Bei der Gestaltung des Unterrichts müssen aber auch die besonderen Bedürfnisse der Altersgruppe sowie die Gruppen- bzw. Klassensituation berücksichtigt werden. Daraus ergibt sich eine Folge von insgesamt zehn Unterrichtsphasen, die jeweils spezifische methodisch-didaktische Aspekte beinhalten und unterschiedliche Anforderungen an die Lehrkraft und die Kinder stellen.

Während die ersten vier Phasen (Einstieg, Impuls/Idee, Wahl des Klangmaterials, Exploration des Klangmaterials) mehr oder weniger linear aufeinander folgen, finden sich im Zentrum des Kompositionsprozesses eher zyklische Abläufe, in denen Phasen der Improvisation, Reflexion, Komposition und Notation ineinander übergehen bzw. sich mehrmals abwechselnd wiederholen können, bis aus einem vorläufigen Ablauf eine endgültige, auch im Notat sichtbar gewordene Gestaltung wird. Diese kann immer noch improvisatorische Elemente enthalten, ist aber in der Regel bezüglich des Gestus, des Spannungsverlaufs und der Form konstant. Mit Hilfe des notierten Verlaufs wird die Komposition schließlich geübt und kann einem Publikum präsentiert werden. Für die musikpädagogische Praxis sollen die dargestellten Phasen eine Hilfe für die Erfassung der Variablen eines auf die Erfindung von Musik ausgerichteten Unterrichts sein und Hinweise für die Strukturierung desselben geben:

 

2.2.1 Einstieg

Beim Einstieg in einen Kompositionsprozess ist es besonders in größeren Gruppen und Klassen wichtig, eine Atmosphäre von Akzeptanz, Wertschätzung und Sicherheit zu schaffen, damit bei den Kindern die Bereitschaft zur ungehemmten Freisetzung ihrer kreativen Ideen entsteht. Rituale, die den Anfang der Stunde so gestalten, dass jedes Kind sich gleichermaßen wahrgenommen fühlt, können so angelegt sein, dass sie sowohl eine namentliche Nennung jedes Kindes enthalten als auch spontane Erfindungen der Kinder aufgreifen und dabei gleich das Thema der folgenden Unterrichtseinheit vorstellen.

Folgendes Lied kann beispielsweise zu Beginn der Stunde oder des Projektes gesungen werden. Im weiteren Verlauf wird es dann gegebenenfalls erweitert und variiert aufgegriffen, z.B. begleitet mit Body-Perkussion, Rhythmusinstrumenten, Klangbausteinen oder auch rein instrumental umgesetzt.

[Name des Kindes] spielt was vor, wir machen mit.
Musik erfinden wir, die wird ein Hit!
[Takt 1–3: Improvisation eines Kindes über 10 Zählzeiten]
[Takt 4–6: Gruppe imitiert die Improvisation des Kindes]

Die Taktstruktur ist bewusst etwas unüblich gewählt, um die Aufmerksamkeit zu erhöhen und zu verdeutlichen, dass auch im weiteren Verlauf unkonventionelle Lösungen erwünscht sind.
Die Gestaltung dieser ersten Unterrichtsphase liegt vornehmlich in den Händen der Lehrkraft. Sie wählt die Art des Einstiegs (Vorstellungsrunde, Begrüßungslieder und -verse, einfache Begleitmuster, spieltechnische Übungen etc.) und steuert die Ausführung derselben. Klarheit und Intensität seitens der Lehrkraft sorgen dafür, dass die Kinder sich sicher und angenommen fühlen.

2.2.2 Impuls/Idee

Der erste Kontakt mit dem Instrumentarium ist bei Kindern im Vor- und Grundschulalter häufig geleitet von ihrem Spiel- und Bewegungsdrang und ihrer Lust am unmittelbaren Eintauchen in die Welt der Klänge. Nicht zuletzt deshalb ist es sinnvoll, den Kindern vorher eine übergeordnete Idee anzubieten, die ihre Klangexperimente leitet und so dem entstehenden Musikstück den Weg zu weisen vermag (vgl. hierzu die Themenbilder in Reitinger, 2008, S. 255–275). Solche Ideen und Impulse für Kompositionen können sowohl von der Lehrkraft vorgegeben als auch von Kindern aus der Gruppe initiiert werden. Der Lehrkraft obliegt es, potenziell tragfähige Ideen entsprechend aufzugreifen. Diese sollten so angelegt sein, dass sie einerseits eine klare Orientierung bieten, andererseits aber genügend Freiraum für die individuelle Ausgestaltung durch die einzelnen Kinder lassen. Nur so ist die Chance auf eine längerfristige Motivation seitens der Kinder gegeben.
Ausgangspunkte für das Erfinden von Musik können sich ebenso an außermusikalischen Phänomenen orientieren wie am musikalischen Material selbst. Generell ist es jedoch sinnvoll, die Kompositionsaufgaben für jüngere Kinder in fantasievolle Rahmenhandlungen einzubetten, da diese als „roter Faden“ einen nachvollziehbaren Spannungsbogen darstellen und so auch Anknüpfungsmöglichkeiten hinsichtlich des späteren dramaturgischen Verlaufs der Stücke bieten.

In dieser Phase ist die Lehrkraft neben der klugen Auswahl einer entsprechenden Kompositionsidee insbesondere für eine die Kinder ansprechende, überzeugende und kunstvolle Präsentation des Ausgangsimpulses verantwortlich. Von der Qualität der Präsentation hängt die Identifikation der Kinder mit der Aufgabe und in der Folge auch mit dem erfundenen Musikstück ab. Insofern entscheidet sie über die Intensität des Musikerfindungsprozesses und die Motivation der einzelnen Kinder sowie der gesamten Gruppe.

2.2.3 Wahl von Klangmaterial bzw. Instrument(en)

Um den Kindern einen hohen Grad an Identifikation mit dem eigenen Tun zu ermöglichen und ihre musikalische Entscheidungskraft, die eine wesentliche Anforderung im gesamten Kompositionsprozess darstellt, von Anbeginn zu fordern und zu fördern, sollten die Kinder ihr Klangmaterial möglichst selbst wählen. Manchmal wird hier freilich die Vorliebe für bestimmte Klänge und Spielbewegungen entscheidender sein als die Orientierung am vorgestellten Kompositionsimpuls.

In der Regel stehen den Kindern ein breites Spektrum an elementaren Instrumenten und einige traditionelle Instrumente wie Klavier, Flöten o.ä. zur Verfügung, die gegebenenfalls mittels experimenteller Spieltechniken Verwendung finden. Selbstverständlich können und sollen die Kinder darüber hinaus Instrumente, die sie selbst gerade erlernen, in den Prozess mit einbringen. Insbesondere sollte dafür gesorgt sein, dass neben Rhythmus-, Geräusch- und Effektinstrumenten auch Melodieinstrumente zur Verfügung stehen. Hier bietet sich die Einbeziehung der verschiedenen Stabspiele an, da sie leicht zu überblicken sind und auch einfaches Melodiespiel ermöglichen.

Im Bereich der elementaren Instrumente wählen die Kinder häufig auch mehrere Instrumente, die sie als Set aufbauen und abwechselnd spielen möchten. Hier sollte die Lehrkraft vor allem am Anfang beim Aufbau, bei der Wahl passender Schlägel etc. behilflich sein. Darüber hinaus achtet sie in dieser Phase vor allem darauf, dass mit den Instrumenten pfleglich umgegangen wird, dass insgesamt genug Instrumentarium zur Verfügung steht und bei der Instrumentenwahl alle Kinder die gleichen Chancen auf ihre Lieblingsinstrumente haben. Notfalls müssen Rotationssysteme oder Regeln für die Instrumentenwahl ausgehandelt werden, damit kein Kind benachteiligt ist.

2.2.4 Exploration des Klangmaterials

Der Übergang von der Auswahl des Instrumentariums zur Exploration desselben ist in der Regel fließend. Um Entscheidungen bezüglich der Instrumente treffen zu können, müssen die Kinder auch deren Klang- und Spieleigenschaften prüfen. Typisch für diese Phase ist darum ein gewisser, nicht zu vermeidender Geräuschpegel, der als „kreatives Chaos“ einen wichtigen Schritt im Kompositionsprozess darstellt.

Haben die Kinder ihre Instrumente gefunden, geht es darum, assoziativ zu der vorgestellten Ausgangsidee Klänge, Geräusche, Spielbewegungen, aber auch schon erste Konturen und Motive zu finden bzw. vor dem Hintergrund der musikalischen Impulse Klangmaterial zu sammeln. Neben der Exploration des Klangmaterials erfüllt diese Aktivität auch die Funktion des Einspielens auf dem Instrument.

Der Lehrkraft obliegt es hier, die nötigen Freiräume zum Experimentieren zu schaffen. Dies betrifft in erster Linie die Raumorganisation, die es den Kindern ermöglichen soll, einigermaßen ungestört zu probieren. Nicht alle Kinder tauchen sofort in den Erfindungsprozess ein. Insofern kann es sinnvoll sein, dass die Lehrkraft zu Beginn dieser Phase auch vorbildhaft mitexperimentiert. Dabei sollte sie sich selbst jedoch eher als ein Vorbild an Intensität verstehen, denn als Ideengeber für die Stücke der Kinder. Freilich lässt sich nicht vermeiden, dass die Kinder die Klänge und Spielformen um sich herum wahrnehmen und evtl. auch aufgreifen. Um eine eigenständige Weiterentwicklung zu ermöglichen, sollte die Lehrkraft in dieser Phase mit eigenen Ideen zurückhaltend umgehen. Vielmehr kann sie die Chance nutzen, sich möglichst bald in die Beobachter- und Zuhörerrolle zu begeben, um aufmerksam wahrzunehmen, wie einzelne Kinder an die Aufgabe herangehen. So kann sie später gegebenenfalls gezielte Hilfestellungen geben.

2.2.5 Improvisation

Die von den Kindern in der Explorationsphase gefundenen Klänge, Materialien, Spielbewegungen, Motive etc. bilden die Ausgangsbasis für die musikalische Improvisation als Vorstufe der Komposition. In der Improvisationsphase erhalten die Kinder die Gelegenheit, sich ihre musikalischen Ideen gegenseitig vorzustellen bzw. sie gleich innerhalb eines größeren Zusammenhangs zu erleben. Dabei sind sie gefordert, kleine musikalische Sinneinheiten zu bilden und spontan zu verknüpfen. Orientierung hierfür bieten Spielregeln, die gleichermaßen die individuellen Gestaltungen integrieren wie die Wahrnehmung durch die Gruppe fordern und fördern. Einige solcher Spielformen sollen hier exemplarisch genannt werden:

  • Rondo
    Ein gemeinsamer, z.B. von der Lehrkraft oder einem Kind erfundener Tutti-Teil (T) wird im Wechsel mit improvisierten Soloteilen (A, B, C …) einzelner Kinder oder Kleingruppen gespielt: T – A – T – B – T – C …
  • Echo
    Ein Kind improvisiert eine kurze Sequenz (A), einzelne Kinder oder die ganze Gruppe imitieren das Gespielte (A’). Das Echo wird so oft wiederholt, bis der Vorspieler mit dem Ergebnis zufrieden ist: A – A’ – A’ – A’ … Besonders reizvoll ist das Echo, wenn die nachahmenden Spieler auch einmal auf anderen Instrumenten spielen als der Vorspieler. Dann geht es nicht so sehr darum, die genaue Melodiefolge oder Klangqualität zu imitieren, sondern den Gestus, die Stimmung oder dergleichen mehr.
  • Kofferpacken
    Dies ist die schwierigere und erweiterte Form des Echospiels, bei der die Motive der einzelnen Teilnehmer nach und nach aneinandergereiht werden. Dabei spielt das erste Kind nur sein Motiv, das zweite wiederholt das Motiv des ersten Spielers und hängt seines an, das dritte wiederholt die beiden ersten und spielt sein eigenes etc.: A, A – B, A – B – C, A – B – C – D …
  • Domino
    Diese Spielregel funktioniert wie das gleichnamige Gesellschaftsspiel. Ein Spieler gibt ein zweiteiliges Motiv (AB) oder eine Folge von zwei unterschiedlichen Klängen, Geräuschen, Spielbewegungen etc. vor. Der nächste Spieler imitiert die zweite Hälfte des vorgespielten Motivs (B) und ergänzt einen eigenen, gleich langen Teil (C), den wiederum der nächste Spieler imitieren muss, bevor er sein Motiv anhängt: AB – BC – CD – DE …
  • Kettenreaktion
    Die Spieler stehen oder sitzen im Kreis. Ein Motiv (A) wird von einem Spieler vorgegeben und reihum in einem vorgegebenen Tempo bzw. Puls imitiert, bis ein anderer Spieler ohne Vorwarnung ein anderes Motiv einbringt. Die folgenden Spieler müssen nun schnell reagieren und das neue Motiv aufgreifen, ohne das Tempo zu verlieren. Dabei kann beispielsweise folgende Abfolge entstehen: A –A’ – A’ – A’ – B – B’ – B’ – C – C’ – C’ – C’ – C’ – D – D’ – E … Schwieriger ist folgende Variante: In dem Moment, in dem ein neues Motiv auftaucht, wechselt zusätzlich die Richtung und damit die Reihenfolge der Spieler im Kreis. Nun müssen die vorherigen Spieler ihre Reaktionsfähigkeit beweisen.

Neben solchen Spielformen eignen sich für die Bündelung und Sichtung der Motive und Ideen auch Dirigierspiele in allen Formen und Varianten. Hier einige Beispiele:

  • Ein Kind übernimmt die Funktion des Dirigenten. Die anderen Kinder stehen oder sitzen verteilt im Raum mit spielbereiten Instrumenten. Das Dirigentenkind bewegt sich nun leise zwischen den Spielern frei im Raum. Bleibt es bei einem Kind stehen, darf dieses seine Improvisation vortragen. Durch seinen Raumweg bestimmt das Dirigentenkind die Reihenfolge der improvisierten Teile. Es kann auch vereinbart werden, dass das Kind, bei dem der Dirigent stehen bleibt, so lange sein Motiv wiederholen darf, bis das Kind sich weiterbewegt. Dadurch bestimmt das Dirigentenkind auch die Dauer der einzelnen Teile und die Anzahl der jeweiligen Wiederholungen und es entstehen ganz unterschiedliche Höreindrücke und Wirkungen. Wichtig sind hier aber vor allem auch die Stillephasen, die immer dann entstehen, wenn das Dirigentenkind sich durch den Raum zum nächsten Spieler schleicht.
  • Alle Kinder sitzen oder stehen spielbereit verteilt im Raum. Auf ein Zeichen des Dirigentenkindes spielen alle gleichzeitig ihre Improvisationen im pianissimo. Ein Dirigentenkind bewegt sich frei im Raum. Je näher es an ein anderes Kind herantritt, umso lauter spielt dieses Kind. Entfernt es sich wieder, spielt das betreffende Kind allmählich leiser, während eventuell ein anderes Kind, dem sich der Dirigent nähert, nach und nach lauter wird. So tauchen über einer Art Klanggrund einzelne Soli auf und wieder ab. Die Solisten werden dabei durch den Klanggrund begleitet und fühlen sich unterstützt. So entstehen auch erste Erfahrungen mit Mehrstimmigkeit.
  • Die Kinder formieren sich spielbereit in einer Art Orchesteraufstellung. Das Dirigentenkind steuert die Gruppenimprovisation, indem es Einsätze gibt, dynamische Veränderungen anzeigt, einzelne Spieler wieder abwinkt etc. Die Dirigentenrolle sollte beim ersten Mal von der Lehrkraft übernommen werden, damit die Kinder sich an einem Beispiel orientieren können.
  • Das Dirigentenkind beschreibt mit dem ausgestreckten Arm in gleichmäßig langsamem Tempo einen großen Kreis vor dem Körper, beginnend auf zwölf Uhr. Es symbolisiert damit die Zeitdauer von einer Minute. Jedes Kind darf nun innerhalb dieses Zeitraumes ein kurzes improvisiertes Motiv dreimal wiederholen. Über die genauen Zeitpunkte entscheidet es selbst, indem es auf die anderen Spieler hört und reagiert. Die Lehrkraft weist ggf. darauf hin, dass auch Pausen zu einem Musikstück gehören und daher berücksichtigt werden sollten. Bei großen Gruppen muss die Anzahl der Wiederholungen reduziert werden oder ein längerer Zeitraum, beispielsweise drei Umdrehungen auf der Dirigentenuhr, vereinbart werden.

Neben solchen Improvisations- und Dirigierspielen, die in der Regel die Gruppenaktivität in den Mittelpunkt stellen, sollten die Kinder regelmäßig die Gelegenheit erhalten, den anderen Gruppenmitgliedern ihre Improvisationen in Solorunden vorzutragen.

Die Lehrkraft ist in dieser Phase in erster Linie dafür zuständig, die Spielregeln prägnant und verständlich zu kommunizieren, sodass möglichst zügig gespielt werden kann und die Ideen aus der Explorationsphase nicht verloren gehen können. Bei den Dirigierspielen kann sie jeweils die erste Runde selbst übernehmen, um lange Erklärungen zu vermeiden. Für alle Impro-Spiele gilt, dass sie als Mitspielerin teilnehmen kann, aber darauf achten sollte, nicht die zentrale Ideengeberin zu sein.

2.2.6 Reflexion

Eine Kultur des Hörens und Sprechens über Musik sollte, wenn möglich, bereits im Vorfeld des Kompositionsprozesses, zumindest aber parallel dazu auch anhand von bereits existierenden Hörbeispielen entwickelt werden. Höraufgaben und Gespräche fördern das Nachdenken über Musik als klangliche Struktur mit spezifischen Besonderheiten und Wirkungen. Im Unterricht sollte daher durch verschiedene Formen des aktiven Hörens die Lust am Zuhören geweckt werden. Folgende Höraufgaben können beispielsweise sowohl auf Hörbeispiele traditioneller als auch zeitgenössischer oder selbst erfundener Musik bezogen werden:

  • Spiele einen „ausgeflippten“ Dirigenten oder Tänzer und erfinde spontan passende Bewegungen zum Musikstück.
  • Notiere das Gehörte auf einem großen Papierbogen. Wähle anschließend passende Instrumente und spiele von der Partitur ein eigenes Musikstück ab. Was war daran anders als in dem Hörbeispiel, was war ähnlich oder gleich?
  • Wähle ein Instrument und spiele an aus deiner Sicht passender Stelle mit bzw. erweitere das Stück um eine Stimme.

Daneben geht es aber darum, die spontan gestalteten Stücke in Inhalt, Spannungsverlauf und Wirkung zu reflektieren und zu kommentieren, um dem komponierenden Kind neue Denkanstöße, Impulse und Hilfestellungen für den weiteren Kompositionsprozess zu geben und die spontanen Gestaltungen generell wertschätzend anzuerkennen. Dies kann im Anschluss an die Improvisationsphase in Form einer Gesprächsrunde geschehen. Vorbereitend werden hierzu bereits in den Improvisationsspielen von der Lehrkraft Hinweise zum gezielten Zuhören gegeben und die Einfälle der Kinder regelmäßig kurz kommentiert. Diese Kommentare sollten prinzipiell in erster Linie differenziert beschreibender und nicht pauschal bewertender Art sein, um das jeweilige Kind im weiteren Verlauf zu motivieren und zu unterstützen, aber auch, um Maßstäbe für die Art und Weise des konstruktiven Umgangs miteinander zu setzen.

Aufgabe der Lehrkraft ist es, neben der eigenen vorbildhaften Kommentierung der Erfindungen auch die Reflexionsphasen zu moderieren. Hierfür kann sie beispielsweise Karten mit Gesprächsimpulsen und Fragen vorbereiten, die dann spontan von der Lehrkraft oder den Kindern ausgewählt bzw. zufällig gezogen werden. Auf diesen Karten steht beispielsweise jeweils eine der folgenden Fragen oder Gesprächsimpulse:

  • Welche Überschrift könnte die eben gehörte Musik haben?
  • Beschreibe, was dich an dem Stück besonders angesprochen hat.
  • Stelle dem Erfinder des Stückes eine Frage zu seiner Musik.
  • Welche verschiedenen Spieltechniken wurden verwendet?
  • Nach welchen Regeln funktioniert dieses Stück vermutlich?
  • Was könnte man spieltechnisch oder kompositorisch noch verbessern?
  • Wo gab es innerhalb des Stückes Wiederholungen, Ähnlichkeiten oder auch Gegensätze?
  • Wie lässt sich der Spannungsverlauf des Stückes beschreiben?

Auf diese Weise werden die grundlegenden Verknüpfungsmodi von Musik wie Wiederholung, Variation, Kontrast, dynamische Steigerung und Beruhigung etc. transparent gemacht. So wird aus eher intuitivem Wissen seitens der Kinder durch die Verknüpfung der eigenen Erfahrungen im Spielen, Erfinden, Zuhören und Formulieren allmählich begriffliches Wissen und kompositorisches Handwerkszeug. Für die Lehrkraft gilt, dass sie musikalische Fachbegriffe, beispielsweise die verschiedenen Parameter oder die motivische Arbeit betreffend, in enger Anbindung an die von den Kindern erfundenen musikalischen Bausteine einbringt. Als wesentliches Grundprinzip dieses Unterrichts kann formuliert werden, dass alle Hinweise zur Musiktheorie, Spiel- oder Kompositionstechnik stets an die aktuellen Erfahrungen der Kinder angebunden werden. So besteht die Chance, dass Theorie- und Praxiswissen verknüpft und damit gleichermaßen der Prozess des Erfindens wie das Verstehen des Produkts seitens der Kinder befördert werden.

2.2.7 Komposition

Die endgültige Festlegung eines relativ wiederholbaren Ablaufs sollte grundsätzlich selbst verantwortete Angelegenheit des Kindes oder der Gruppe sein. Durch die verschiedenen Impulse und Spielregeln, die die Lehrkraft zu Beginn des Kompositionsprozesses und in der Improvisationsphase vorstellt, sowie durch die Zuhöraufgaben, Kommentare und Gespräche erwerben die Kinder mit der Zeit ein Handwerkszeug für die Strukturierung und Organisation der selbst erfundenen spieltechnisch-musikalischen Bausteine.
Gerade in der ersten Unterrichtszeit ist es jedoch sinnvoll, dass die Lehrkraft exemplarisch Abläufe festlegt, verschiedene Varianten mit den Kindern erprobt oder auch ausdrücklich eine eigene Komposition mit der Gruppe verwirklicht. Hier ist sie in ihrer eigenen Ausdrucks- und Gestaltungsfähigkeit gefordert. Zudem sollte sie solche exemplarischen Gestaltungsprozesse anschließend gemeinsam mit den Kindern reflektieren, um den Vorgang des Komponierens transparent zu machen.

Neben dem exemplarischen Komponieren der Lehrkraft mit der gesamten Gruppe empfiehlt es sich, diese Arbeitsphase zunächst in Teams von drei bis vier Kindern durchzuführen, sodass eine Gruppenkomposition entsteht. In der Gruppe profitieren die Kinder von den Ideen der anderen und auch die klanglichen Ergebnisse sind selbst bei geringen spieltechnischen Fähigkeiten beeindruckend. Bevor also von den Kindern Solokompositionen gefordert werden, sollten sie mehrmals die Gelegenheit haben, Abläufe gemeinsam zu diskutieren und festzulegen.

Der Grad der Festlegung und Wiederholbarkeit der Stücke kann sich dabei, ähnlich wie in der zeitgenössischen Musik, stark unterscheiden. Manche Komponisten(teams) werden nur grobe Eckpunkte, große Formteile oder den Gesamtspannungsverlauf festlegen, während andere die Abfolge und Ausführung einzelner motivischer Details austüfteln möchten. Wieder andere legen zwar zunächst alles genauestens fest, lassen sich bei der aktuellen Ausführung dann aber wieder von ihren spontanen Einfällen tragen. Wie groß letzten Endes auch in der fertigen Komposition die improvisatorischen Anteile sein werden, entscheiden die Kinder selbst. Häufig ist jedoch festzustellen, dass die Stücke von Kindern, die sich improvisatorischen Freiraum erhalten, bezüglich Spielfluss und Komplexität ein höheres Niveau aufweisen. Insofern kann die Lehrkraft die Kinder durchaus ermutigen, bestimmte Aspekte offen zu lassen bzw. bei der aktuellen Ausführung des Stückes spontan zu entscheiden.

2.2.8 Notation

Der Vorgang des Notierens erfüllt im Kompositionsprozess verschiedene Funktionen. So dient er einerseits der Dokumentation der ansonsten flüchtigen Klangereignisse. Das Notat stellt für die Kinder ein sichtbares und dauerhaftes Zeugnis ihrer kompositorischen Tätigkeit dar. Ähnlich wie die Ergebnisse des Zeichenunterrichts sollten die Notate daher in einer Art Mappe gesammelt und aufbewahrt werden. Andererseits dient die Notierung der Visualisierung des Stückes und bietet als solche eine Gedächtnisstütze und Sicherheit beim Üben und Vorspielen. Durch das Notat wird die relative Wiederholbarkeit der Kompositionen gewährleistet. Des Weiteren unterstützt der Vorgang des Notierens den Reflexionsprozess. Beim Notieren wird der vorüberlegte Verlauf des Stückes nochmals rekapituliert und kann gegebenenfalls modifiziert werden.

Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Notation soll auf möglichst vielfältige Art und Weise passieren. Die Aufgabe kann zunächst einfach lauten: Notiere dein Stück bzw. deinen musikalischen Einfall auf einem großen Papierbogen so, dass du später noch weißt, was du auf dem Instrument spielen willst. Auf diese Weise entwickeln die Kinder erst einmal individuelle Zeichen und Symbole und verbinden diese mit bestimmten Klangeigenschaften, Spielbewegungen und Assoziationen. So erkennen sie das Grundprinzip von Notation. In Reitinger (2008, Teil 1) finden sich zahlreiche Beispiele für solche Notationsversuche. Sie enthalten neben grafischen und bildhaften Elementen, die sich an den spezifischen Klang- und Spieleigenschaften des Instrumentariums orientieren, Farben, Zahlen, Buchstaben und Ansätze von traditioneller Notation, die die Kinder kennen, aber in ihrer Abstraktheit in der Regel noch nicht durchdrungen haben.

Anhand der Notate können dann die verschiedenen Notationsstrategien thematisiert werden. Dies geschieht meist implizit, wenn im Team komponiert und notiert wird, da man sich auf möglichst allgemein nachvollziehbare Notationsformen einigen muss. Sehr spannend kann es auch sein, ein geeignetes Solostück eines Kindes mit allen einzustudieren. Auch in diesem Fall wird die vorhandene Notationsform diskutiert werden müssen, sodass bei den Kindern die Einsicht entstehen kann, dass verbindliche Zeichen und Symbole, wie sie die traditionelle Notenschrift bereithält, nützlich sein können.

Vor diesem Hintergrund können allmählich traditionelle Notationsformen verwendet werden, nicht ohne Hinweis darauf, dass in der zeitgenössischen Musik wieder eine Erweiterung im Sinne der oben genannten Strategien erfolgt ist. Solche Notenbeispiele sollten den Kindern als Inspiration auch gezeigt und erläutert werden (z.B. aus „Játékok“ von G. Kurtág). Bei vielen Kinderkompositionen reicht es zunächst, die rhythmische Struktur festzuhalten. Hier kann mit simplen Punkt-Strich-Notationen begonnen werden, die aber lediglich einfache Verhältnisse darstellen (kurz-lang). Die Einführung und Benennung von Vierteln und Achteln, Halben, Sechzehnteln und ganzen Noten ist aber als logische Fortsetzung in der Regel nur ein kleiner Schritt. Je nach Bedarf im Musikstück können nach und nach verschiedene Systeme mit zwei bis fünf Linien erprobt werden, bis hin zur Erarbeitung der traditionellen Notenschrift, falls sich seitens der Kinder Interesse daran herauskristallisiert. Das eigentliche Notenlernen sollte jedoch abgekoppelt vom Erfindungsprozess im Instrumental- oder allgemeinen Musikunterricht erfolgen, um den kreativen Prozess nicht zu beeinträchtigen.

2.2.9 Üben

Das musikalische Gestaltungsvermögen der Kinder kann ihre spieltechnischen Fähigkeiten schnell übersteigen. Daher müssen die eigenen Erfindungen teilweise sehr intensiv geübt werden, bis sie der Vorstellung der Kinder bezüglich Spielfluss, Spannungsverlauf und Klangeindruck entsprechen. In der Regel zeigen sich die Kinder hier erstaunlich ausdauernd und perfektionistisch. Sie fordern Zeit und Übemöglichkeiten ein, weil sie sich auch in der Konkurrenz zu den anderen Kindern oder Kleingruppen möglichst gut präsentieren wollen. Die Lehrkraft sorgt dafür, dass die Kinder ungestört proben können, und plant für diese wichtige Phase vor allem auch großzügig Zeit ein. Unterstützend kann sie wirken, indem sie den Kindern spezielle Übevarianten vorschlägt, spieltechnische Kniffe zeigt oder auf die Spielregeln aus der Improvisationsphase verweist, die auch als Übungsformen für einzelne musikalische Bausteine geeignet sind.

2.2.10 Präsentation

Den Höhe- und Schlusspunkt des Erfindungsprozesses bildet die Präsentation des entstandenen Musikstücks vor Zuhörern. Als Vorbild für dieses Erfordernis kann beispielsweise die Bilderausstellung in der Kunsterziehung angesehen werden. Für eine Art Ausstellung eignen sich auch am Ende eines Kompositionsprozesses die von den Kindern angefertigten Notate als Dokumentation ihres selbst erfundenen Musikstückes. Diese werden von den meisten Kindern sehr sorgfältig, liebevoll und grafisch äußerst ansprechend gestaltet und stellen deshalb selbst kleine Kunstwerke dar.

Das eigentliche Produkt des Erfindungsprozesses existiert aber nur in der aktuellen Ausführung und Vorstellung durch die Kinder. Dafür sollte die Lehrkraft vielfältige Präsentationsmöglichkeiten anbieten, weil erst in der Entgegennahme und Würdigung durch Zuhörer bei den Kindern tiefe Urhebererlebnisse entstehen können.
Die Vorspielrunden in der Improvisationsphase mit den anschließenden Gesprächen über die Stücke dienen als Vorbereitung auf die Vorspielsituation. Das Vorstellen und Diskutieren der eigenen musikalischen Gestaltungen wird dadurch eine selbstverständliche Aktivität, sodass Lampenfieber oder Auftrittsängsten vorgebeugt wird. Dennoch ist vielen Kindern eine gewisse Aufregung vor ihrem Vorspiel anzumerken. Dies ist verständlich, da sie etwas sehr Persönliches von sich zeigen und sich dadurch auch angreifbar machen könnten. Umso sorgfältiger müssen die Vorspiele von der Lehrkraft inszeniert werden und muss im gesamten Erarbeitungsprozess von ihr Wert auf einen wohlwollenden und wertschätzenden Umgangston gelegt werden, den sie modellhaft vorlebt.
Als weitere vorbereitende Präsentationsform oder auch zur dauerhaften Dokumentation der Ergebnisse sollten regelmäßig Video- oder Tonaufnahmen angefertigt werden. Beispielsweise können am Ende einer Unterrichtseinheit die Zwischenergebnisse aufgenommen werden, um sie im Anschluss oder als Einstieg und Anknüpfung in der nächsten Stunde gemeinsam anzuhören und zu diskutieren. Die meisten Kinder finden dies sehr spannend, interessant und motivierend. Am Ende eines größeren Projekts kann auch eine CD oder DVD produziert werden, die alle Beteiligten als Erinnerung erhalten.

Das eigentliche Vorspiel sollte sich von den alltäglichen Spielrunden deutlich abheben. Als Publikum können nach einem ersten Probevorspiel vor den Mitschülern weitere Schüler, Eltern und Kollegen eingeladen werden. An den Vorbereitungen eines solchen größeren Vorspiels können die Kinder selbst mitwirken und beispielsweise Einladungen entwerfen und verteilen, den Raum und die Bühne dekorieren, das Instrumentarium spielbereit aufbauen etc. Allen, die im Vor-, Grund- und Musikschulbereich tätig sind, sind die nötigen Schritte bestens vertraut und müssen daher hier nicht näher erläutert werden.

Entscheidend ist, dass sich die Kinder mit dem gesamten Projekt identifizieren. Deshalb kann es beispielsweise sinnvoll sein, ein gemeinsames Motto für das Vorspiel zu überlegen, eigene Moderationstexte vorzubereiten und einzustudieren. Für Auflockerung und eine gute Atmosphäre sorgen darüber hinaus Mitmachaktionen für das Publikum. So kann beispielsweise im Rahmen eines solchen Konzertes auch gemeinsam mit dem Publikum musiziert werden. Vielleicht bietet sich eines der Kinderstücke an, um es mit dem Elternpublikum einzustudieren. Eventuell kann auch ein gemeinsames Improvisationsspiel den Abschluss des Vorspiels bilden. Traut sich jemand aus dem Publikum, ein Stück anhand des Notates spontan zu realisieren? Im Anschluss kann dann das eigentliche Stück erklingen etc. Im Nachklang des Konzertes wird, wie bei den Profis üblich, gemeinsam gefeiert, sodass ein solches Projekt bei allen Beteiligten in bester Erinnerung bleibt.

2.3 Beispiel: „Im Nebel“

Das hier vorgestellte Themenbild skizziert einen möglichen Ausgangspunkt für den Kompositionsprozess sowie Arbeitsaufgaben für die Gruppe. Natürlich wird jede Lehrkraft vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Erfahrungen und in Abstimmung auf die Bedürfnisse der Gruppe die genannten Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung modifizieren oder auch weiterentwickeln. Der Unterrichtsaufbau orientiert sich weitgehend an den oben beschriebenen Phasen. Erfahrungsgemäß benötigt ein Thema vom ersten Impuls bis zur Aufführung der fertigen Stücke ca. drei bis vier 45-minütige Unterrichtseinheiten, je nachdem, wie intensiv gearbeitet werden kann, wie lang die Stücke sind und wie viel Probenzeit dafür benötigt wird. Gibt es wöchentlich nur eine Stunde Unterrichtszeit, muss im Gegensatz zur blockweisen Projektarbeit insgesamt mehr Zeit eingeplant werden, da erst wieder an das Geschehen der Vorwoche angeknüpft werden muss.

Als mögliche Impulse für Kompositionen können generell sowohl das musikalische Material selbst als auch außermusikalische Phänomene dienen. Neben Rhythmen, Tonräumen, musikalischen Parametern und Kompositionsprinzipien bilden Bilder, Texte, Geschichten, Objekte und Charaktere Ausgangspunkte von Kompositionsprozessen. Diese knüpfen an die Lebenswelt, Bedürfnisse und Erfahrungen der Kinder an und können so die musikalische Umsetzung besonders hinsichtlich des dramaturgischen Aufbaus und Spannungsverlaufs bereichern. Dabei geht es zum einen darum, durch individuelle Anknüpfungsmöglichkeiten einerseits die Fantasie der Kinder anzuregen und eine Identifikation mit dem eigenen Tun zu ermöglichen und andererseits durch klare Spiel- und Erfindungsregeln den Kindern eine Orientierungsmöglichkeit sowie exemplarischen Einblick in die Form und Struktur von Musik zu geben. In der Begrenzung der Möglichkeiten durch die Kompositionsaufträge und -regeln finden die Kinder eigene kreative Lösungen.

Die hier beschriebenen Ideen und Aufgaben eignen sich, um mit einer Gruppe oder Klasse erstmalig in das Lernfeld einzusteigen. Nicht unbedingt müssen dabei seitens der einzelnen Kinder fertig komponierte Stücke entstehen. Vielmehr können verschiedene Arten der Improvisation (freimetrisch, rhythmisch, melodisch) erprobt werden, bevor die Ergebnisse zusammengeführt und in einen festgelegten Ablauf gebracht werden.

Impuls:

Nebelgedicht (in Anlehnung an das Gedicht „Septembermorgen“ von E. Mörike)
Im Nebel ruhet noch die Welt,
noch träumen alle Klänge.
Doch wenn der weiße Schleier fällt,
dann hört man eine Menge.

Material:

  • Karten mit je einer der vier Verszeilen (Gedicht-Puzzle),
  • großes weißes Tuch aus dünnem Stoff (z.B. Chiffon, Seide, Taft),
  • elementares Instrumentarium, auch Effekt- und Melodieinstrumente,
  • Blankokarten,
  • Kopie des Gedichtes für jedes Kind.

Gestaltungsvorschläge:

  • Die Lehrkraft präsentiert den Kindern das Gedicht-Puzzle. Die Kinder bringen die einzelnen Verszeilen in die richtige Reihenfolge und lesen gemeinsam das Gedicht. Kindern, die noch nicht lesen können, trägt die Lehrkraft das Gedicht ausdrucksvoll vor. Lehrkraft und Kinder führen ein Gespräch über den Inhalt des Gedichtes: Worum geht es? Welche Assoziationen, Gedanken und Ideen weckt das Nebelthema? Die Kinder sammeln dazu Adjektive (unheimlich, weiß, feucht, herbstlich, dicht, schleierhaft …). Diese werden auf je einer Blankokarte notiert.
  • Unter dem großen weißen Nebeltuch sind die Instrumente versteckt. Gemeinsam wird der Schleier gelüftet und die Kinder wählen je ein Instrument. Die Kinder probieren aus, welche Nebelklänge sie den Instrumenten entlocken können. Dabei können sie z.B. eine Karte mit den zuvor gesammelten Adjektiven ziehen und versuchen, diese Eigenschaft musikalisch umzusetzen.
  • Im Sitzkreis wird eine erste Nebelmusik improvisiert. Dabei soll zunächst ein möglichst gleichmäßiges Klangband entstehen. Ein Kind dirigiert diese Improvisation, indem es sich als „Nebelschwade“ mit dem weißen Tuch im Innenkreis bewegt. Die Spieler sollen dabei auf die Bewegungen des Tuches reagieren. Die Improvisation endet, wenn das Kind zu seinem Platz zurückgekehrt ist. Die Dirigieraufgabe kann erweitert werden, indem das Kind mit dem Nebeltuch speziell dynamische Veränderungen anzeigt: Je höher im Raum sich das Tuch befindet, umso dichter und lauter wird das Klangband. Zieht es beispielsweise das Tuch über den Boden, müssen alle Spieler im pianissimo spielen. Weitere Absprachen für Dirigierbewegungen und ihre klangliche Umsetzung können gemeinsam getroffen werden.
  • In Kleingruppen erfinden die Kinder Dinge oder Personen, die auftauchen könnten, wenn der Nebel sich lichtet. Hierfür wählen sie wiederum Instrumente, mit denen sie diese Objekte oder Personen musikalisch charakterisieren wollen, und probieren gemeinsam eine kleine Gestaltung. Reihum stellen die Kleingruppen ihre Gestaltung als musikalisches Rätsel vor. Die anderen Kinder versuchen zu erraten, was da aus dem Nebel auftaucht.
  • In Kleingruppen verklanglichen die Kinder instrumental den Inhalt des Nebelgedichtes. Wesentlich dabei ist, dass deutlich wird, wann der weiße Schleier fällt und die Klänge aufhören zu träumen. Im Anschluss an die Vorstellung der Kleingruppenergebnisse im Plenum sollte diskutiert werden, woran diese Veränderung im Verlauf des Stückes zu erkennen war.
  • Die Kinder erhalten eine Kopie des Gedichtes und lesen es vor. Dabei sollen sie den Textrhythmus beachten und feststellen, an welcher Stelle eine Sprech- oder Atempause (Zäsur) passt. Auf Stabspielen oder Klavier (möglichst lang klingende Melodieinstrumente, bei denen die Töne ein wenig ineinander übergehen) improvisieren sie eine Melodie im Sprachrhythmus (pro Silbe ein Ton). Dabei können verschiedene Tonräume erprobt und ausgewählt werden:
    pentatonisch (Klavier: z.B. nur schwarze Tasten verwenden, Stabspiele: z.B. die Platten der Töne f und h umdrehen und nicht verwenden)
    diatonisch (Klavier: nur weiße Tasten verwenden, Stabspiele: falls chromatische Stabspiele vorhanden sind, nur untere Reihe verwenden)
    chromatisch (Klavier: schwarze und weiße Tasten verwenden, Stabspiele: untere und obere Reihe verwenden)
  • Die Improvisationen werden in einer gemeinsamen Spielrunde gebündelt. Eine Hälfte der Gruppe spielt das Klangband mit den Nebelinstrumenten als Begleitung für die anderen Kinder der Gruppe, die darüber nacheinander solistisch ihre Melodieimprovisationen spielen. Einzelne Kinder können gebeten werden, ihre Melodie in Buchstabennotation über den Text zu schreiben und nochmals zu üben.
  • Vorschlag für einen gestalteten Ablauf: Das Stück beginnt mit dem leisen Klangband, kurz darauf setzt ein Kind mit der Melodieimprovisation ein. Ist diese vorbei, entwickelt sich aus dem Klangband eine verklanglichte Variante des Gedichtinhaltes. Es folgen Improvisationen zu Objekten und Personen, die aus dem Nebel auftauchen. Diese werden wiederum von dem leisen Klangband begleitet. Das Stück endet mit einer weiteren Melodieimprovisation über dem Klangband. Alternativ zu einer Melodieimprovisation kann auch der Text des Gedichtes zu dem Klangband vorgetragen werden. Die gesamte musikalische Gestaltung kann von einem Kind mit dem weißen Nebeltuch dirigiert oder von einer weiteren Kleingruppe begleitet werden, die als Nebeltänzer mit großen weißen Tüchern agieren.

Titel: Der Originalbeitrag ist veröffentlicht in: Reitinger, R. (2008). Musik erfinden. Kompositionen von Kindern als Ausdruck ihres musikalischen Vorstellungsvermögens. (S. 231 ff.) Regensburg: ConBrio. Siehe unter: www.conbrio.de/content/buch/musik-erfinden

2 Vgl. hierzu: Reitinger, R. (2014). Zur musikpädagogischen Bedeutung der Improvisation aus entwicklungspsychologischer Perspektive. In: Steffen-Wittek, M & Dartsch, M., Improvisation. Reflexionen und Praxismodelle aus Elementarer Musikpädagogik und Rhythmik. (S. 44–54) Regensburg: ConBrio. 

3 Ribke, J. (1995). Elementare Musikpädagogik. Persönlichkeitsbildung als musikerzieherisches Konzept. Regensburg: ConBrio

4 Meyer-Denkmann, G. (1970). Klangexperimente und Gestaltungsversuche im Kindesalter. Neue Wege einer Musikalischen Grundausbildung. (S. 11) Wien: Universal Edition.


Weiterführende Links

Weiterführende Informationen:

Literatur: Unterrichtspraxis

  • Fröhlich, C. (1996). Astrello. Spiele für Improvisation und Komposition. Zürich: Hug.
  • Jäger, S. (2008). Experimentelle Musik in der Hauptschule. Ausgewählte Ansätze für das Klassenmusizieren. Augsburg: Wißner.
  • Kotzian, R. (2015). Musik erfinden mit Kindern. Elementares Improvisieren, Arrangieren und Komponieren. Mainz: Schott.
  • Kotzian, R. (2016). Das Orff-Schulwerk neu entdecken. Spielstücke und Unterrichtsmodelle plus App. Mainz: Schott.
  • Kaul, A. & Terhag, J. (2013). Improvisation. Elementare Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Mainz: Schott.
  • Olive, V. & Reitinger, R. (2008). Musik erfinden. Komponieren im Instrumentalunterricht. In: Busch, Barbara (Hrsg.), Einfach musizieren?! Studientexte zur Instrumentalpädagogik. (S. 63–78) Augsburg: Wißner.
  • Reitinger, R. (2008). Musik erfinden. Kompositionen von Kindern als Ausdruck ihres musikalischen Vorstellungsvermögens. Regensburg: ConBrio.
  • Rüdiger, W. (2015). Ensemble und Improvisation. 20 Musiziervorschläge für Laien und Profis von Jung bis Alt. Regensburg: ConBrio.
  • Schwabe, M. (1992). Musik spielend erfinden. Improvisieren in der Gruppe für Anfänger und Fortgeschrittene. Kassel: Bärenreiter

Literatur: Theorie und Entwicklungspsychologie

  • Bamberger, J. (1991). The mind behind the musical ear. How children develop musical intelligence. Cambridge/Mass. and London: Harvard University Press.
  • Davidson, L. & Scripp, L. (1989). Education and development in music from a cognitive perspective. In: Hargreaves, David J. (Hrsg), Children and the arts. (S. 59–86) Philadelphia: Open University Press. 
  • Gardner, H. (1994). The arts and human development. A psychological study of the artistic process. New York: Basic Books.
  • Gembris, H. (1998). Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung. Augsburg: Wißner
  • Hargreaves, DJ. (1986). The developmental psychology of music. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Hoerburger, C. (1991). Kinder erfinden Musikstücke. Ein Beitrag zur musikpädagogischen Unterrichtsforschung. Essen: Die blaue Eule.
  • Lyhne, E. & Madsen, M. (2001). Sådan synger børn i Danmark. 54 sange lavet af børn i Danmark. Åbyhøy: Lyren.
  • Reitinger, R. (2014). Zur musikpädagogischen Bedeutung der Improvisation aus entwicklungspsychologischer Perspektive. In: Steffen-Wittek, M. & Dartsch, M., Improvisation. Reflexionen und Praxismodelle aus Elementarer Musikpädagogik und Rhythmik. (S. 44–54) Regensburg: ConBrio. 
  • Swanwick, K. & Tillman, J. (1986). The sequence of musical development. A study of children’s musical compositions. British Journal of Music Education. Bd. 3, p. 305-339. 
  • Swanwick, K. (1991). Further research on the musical development sequence. Psychology of Music, Bd. 19, p. 22-32. 
  • Swanwick, K. (2001): Musical development theories revisited. Conference Keynote. Music Education Research, Bd. 3/2, p. 227-242.